Chronik 1920
Die Geschichte des von ihren Zeitgenossen vornehmlich „Deutsche Republik“ genannten nachkaiserlichen Deutschen Reiches (Die später gängige Bezeichnung „Weimarer Republik“ begann erst Ende der 1920er Jahre geläufig zu werden.) hatte nach der Niederlage im verheerenden Ersten Weltkrieg im Herbst 1918 mit viel Blutvergießen begonnen. Auch in den Folgejahren war Deutschland so massiv von gewalttätigen Auseinandersetzungen betroffen, dass in der Presse und Publizistik für den Zeitraum der frühen, für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung durchaus nicht „Goldenen Zwanzigerjahre“ häufig der Begriff „Nachkrieg“ verwendet wurde. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Regionen Europas herrschten instabile Verhältnisse, Hunger und kriegerische Konflikte. Insbesondere in Ländern der untergegangenen und territorial zerschlagenen anderen Verliererstaaten, nämlich dem Kaiserreich Russland, der k. u. k. Doppelmonarchie und dem Osmanischen Reich, tobten jahrelang heftige Kämpfe bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung.
Aber auch die europäischen Haupt-Siegermächte Großbritannien und Frankreich hatten mit enormen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die zumindest theoretisch gegebene Möglichkeit, durch internationale Zusammenarbeit den Aufbau einer friedlichen und gerechten Weltordnung zu versuchen, scheiterte von vornherein am unzureichend ausgeprägten Willen zur Verständigung. Bei den Siegermächten stand der politische Machtwille im Vordergrund, Revanche und Reparationen ohne Rücksicht auf die Folgen für die betroffenen Staaten und die sich daraus langfristig ergebenen Konfliktkonstellationen zu nehmen. Aber auch in den Verliererstaaten hatten es Stimmen, die zur Frieden und Verständigung mahnten , schwer.
Der idealistische Vorstoß von US-Präsident Woodrow Wilson, mit der Bildung eines Völkerbundes eine supranationale Organisation zu schaffen, die den Frieden in der Welt sichern helfen könnte, galt vielen zeitgenössischen Beobachtern bereits bei seiner Gründung am 10. Januar 1920 im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Weder das Deutsche Reich noch Sowjetrussland waren zur Gründungsversammlung nach Genf eingeladen worden. Dem Völkerbund, dessen Satzung Teil des 1919 abgeschlossenen Friedensvertrags mit Deutschland war, gehörten auch die USA nicht an. In den USA hatte sich die öffentliche Meinung nach Kriegsende gegen die Interventionspolitik Wilsons entwickelt und die Rückkehr zum traditionellen US-Isolationismus der Vorkriegszeit, der sich aus europäischen Händeln heraushielt, gefördert. Als der US-Senat im März 1920 die Ratifizierung des Versailler Vertrags ablehnte (und damit auch den Völkerbunds-Beitritt) war Wilson (Demokratische Partei) politisch so schwer angeschlagen, dass er bei den Präsidentschaftswahlen im November seinem republikanischen Kontrahenten William Harding unterlag (Amtsamtritt 1921).
Innenpolitisch wurden die USA 1920 vor allem von zwei Themen beherrscht: Prohibition und „Red Scare“. Die von Wilson abgelehnte, auf Druck der einflussreichen Abstinenzbewegung 1919 als Zusatzartikel in die Verfassung aufgenommene Alkoholprohibition trat am 1. Januar in Kraft. Das gut gemeinte, zunehmend unpopulär werdende Verbot von alkoholischen Getränken wurde aber nur relativ nachlässig durchgesetzt und führte zur Ausbildung einer von Kriminellen organisierten Subkultur von Schwarzbrennereien, Alkoholschmuggel und „Flüsterkneipen“. Als Reaktion auf die bolschewistische Revolution in Russland 1917 war in den USA eine breite anti-kommunistische, mit dem McCarthyismus der 1950er Jahre vergleichbare Bewegung entstanden. Große Teile der Bevölkerung hatten Angst vor einem kommunistischen Umsturz in den USA („Red Scare“). Die von der Presse eifrig geschürte Angst fand unter anderem Nahrung durch eine Reihe von anarchistischen Anschlägen im Juni 1919. Tatsächliche oder mutmaßliche sozialistische, anarchistische und kommunistische Organisationen und Personen wurden bespitzelt und Repressalien ausgesetzt. Zum Teil wurden Verdächtigte nach Sowjetrussland deportiert. Der berühmt-berüchtigte Generalbundesanwalt Alexander M. Palmer ließ Anfang Januar etwa 10.000 Verdächtigte in einer Nacht verhaften. Als der von Palmer für den 1. Mai vorhergesagte kommunistische Umsturzversuch in den USA ausblieb, begann sich die „Red Scare“-Hysterie zu legen und der politisch ehrgeizige Palmer verlor seinen Einfluss.
In Sowjetrussland wurde die „Red Scare“ als Beweis für den Niedergang des Kapitalismus propagandistisch gewichtet. Das Sowjetregime gelang es 1920, ihre Macht nach außen und innen weitgehend zu sichern. Nach einem dreijährigen Bürgerkrieg gegen die Truppen der heterogenen konterrevolutionären „Weißen Bewegung“ konnte die sowjetische Rote Armee den letzten weißen Verband in Europa, die von General Pjotr Wrangel geführte „Russische Armee“, im November auf der Krim besiegen. In Sibirien und im Kaukasus gingen die Bürgerkriegskämpfe zwar noch bis 1922 weiter, aber die weiße Sache galt ab 1920 für verloren.
1920 endete auch eine andere für den Bestand des jungen, von Wladimir Lenin, Leo Trotzki und Michail Kalinin geführten Sowjetstaates bedrohliche Kriegssituation. Im 1919 ausgebrochenen Polnisch-Sowjetischen Krieg hatte sich die Rote Armee den Angriffen polnischer Truppen mit wechselndem Kriegsglück erwehren können. Die 1795 nach der 3. polnischen Teilung als Staat von der Landkarte verschwundene, Republik Polen war 1918 aus der Konkursmasse der Kriegsverlierer Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn wiedererstanden. Unter der Führung von Staatsgründer Marschall Jozef Pilsudski versuchte Polen ab 1919 mit kriegerischen Mitteln seine Ostgrenze nach Osten zu erweitern und unter anderem die Ukraine zu vereinnahmen. Am 18. Oktober schlossen Polen und Sowjetrussland einen Waffenstillstand. In Folge wurden die Bestimmungen des schließlich 1921 in Riga abgeschlossenen Friedensvertrags ausgearbeitet. Das ausgeblutete Sowjetrussland musste erhebliche litauische und westukrainische Gebiete an Polen abtreten, konnte aber eine militärische Niederlage und noch größere Gebietsverluste verhindern.
Polen strebte nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Gebietszuwachs an. Der in Deutschland nicht allein von der Rechten, sonder parteienübergreifend als „Diktatfrieden“ empfundene Friedensvertrag von Versailles, mit dem Deutschland alleinige Kriegsschuld auf sich nehmen musste, trat am 10. Januar in Kraft. Das Abkommen machte Polen zum Küstenstaat. Deutschland musste die größten Teile der preußischen Provinzen Posen und Westpreußen abtreten. Der von deutscher Seite „Polnischer Korridor“ und polnischerseits „Weichselpommern“ genannte Landstreifen verschaffte Polen den ersehnten Zugang zur Ostsee und trennte Ostpreußen vom restlichen Deutschen Reich. Das ebenfalls von Polen geforderte Danzig wurde als halb-souveräne „Freie Stadt“ dem Völkerbund unterstellt. Auch das Saargebiet wurde unter Völkerbunds-Mandat gestellt. Deutschland verlor mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags seine Kolonien und insgesamt 14 % seines Reichsgebiets, darunter das Elsass-Lothringen an Frankreich und (nach einer Volksabstimmung) Nordschleswig an Dänemark. Das deutsche Militär (“Reichswehr“) wurde auf eine Kopfzahl von 115.000 Berufssoldaten begrenzt und durfte keine modernen schweren Waffen besitzen. Deutschland hatte sich zudem verpflichtet, enorme Reparationen zu zahlen, die das Land verarmen ließen und die Versorgungslage für die Masse der Bevölkerung auf Jahre hin kritisch machten. Das Rheingebiet blieb teilweise als Faustpfand für die Einhaltung der Vertragsbestimmungen von Entente-Truppen besetzt.
Die undankbare Umsetzung der Vertragsbedingungen in der von dem mehrheitssozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert repräsentierten Republik oblag zunächst den MSPD-Regierungen der Reichskanzler Gustav Bauer beziehungsweise Hermann Müller, nach der Reichstagswahl im Juni der bürgerlichen Regierung von Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (Zentrum). Die hauptsächlich für den Ausbruch und die Folgen des Krieges verantwortlichen Kreise des Adels, des Großbürgertums und des Offizierkorps stahlen sich aus der Verantwortung und denunzierten stattdessen die Regierungspolitik als „ehrlose Erfüllungsknechtschaft“.
Das anti-demokratische Lager war in zahllose Parteien und Gruppierungen zersplittert. Dazu gehörte auch die kaum bekannte antisemitische Kleinstpartei DAP („Deutsche Arbeiterpartei“). Am 24. Februar stellte der österreichsche Propagandaleiter der vier Tage vorher in „NSDAP“ („Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“) umbenannte Polit-Sekte im Münchener Hofbräuhaus das neue Partei-Programm vor: Der Mann mit dem Charlie-Chaplin-Bärtchen hieß Adolf Hitler.
Der am 13. März begonnene Versuch von antirepublikanischen Kräften, die Regierung mit Militärgewalt zu stürzen („Kapp-Putsch“), scheiterte vor allem am geschlossenen Widerstand der Arbeiterschaft. Durch den größten Generalstreik in der deutschen Geschichte wurde den Putschisten die Grundlage für ihr Handeln entzogen. Am 18. März gaben die Putschisten auf. Sie konnten mit Wohlwollen der fast durchweg rechtsgerichteten deutschen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte hoffen. Tatsächlich ist nur ein einziger Putschist verurteilt. Kurz nach dem Urteil ist er begnadigt worden. Mit soviel Nachsicht konnten die Kämpfer des „Ruhraufstandes“ nicht rechnen. Wie in Sachsen und Thüringen sind auch im Ruhrgebiet bewaffnete Arbeiter gegen die „Kappisten“ vorgegangen. Daraus hat sich der Versuch von Anhängern der KPD, USPD und anderen linken Gruppen entwickelt, die „Diktatur des Proletariats“ zu erkämpfen. Gegen die etwa 50.000 Mann zählende Rote Ruhrarmee schickte die Reichsregierung unter der Führung von Reichswehrminister Gustav Noske (MSPD) („Einer muss den Bluthund machen.“) neben Polizei und regulärer Reichswehr auch rechtsradikale Freikorps ins Feld. Der Aufstand wurde bis zum 12. April brutal niedergeschlagen. Etwa 2000 getöteten Aufständischen standen in der Verlustbilanz knapp tote 300 Soldaten, Polizisten und Freikorpsmänner gegenüber. Der Ruhr-Aufstand hat wesentlich zur Unversöhnlichkeit zwischen Mehrheits-SPD und der Linken geführt.
Ebenfalls als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg befand sich die Türkei ähnlich wie Deutschland in einem Zustand erheblicher Instabilität. Formell bestand das von Sultan Mehmet VI. regierte Osmanische Reich weiterhin. Durch den am 10. August unterzeichneten Friedensvertrag von Sevres sollte das besetzte Osmanische Reich bis auf das anatolische Kerngebiet nahezu sein gesamtes Territorium abtreten. Im Vorfeld des Vertragsabschluss hatte Griechenland versucht, politische Tatsachen zu schaffen und große Teile der westlichen Türkei zu erobern. Der 1919 ausgebrochene Griechisch-Türkische Krieg endete 1922 mit einer Niederlage Griechenlands („Kleinasiatische Katastrophe“). In diesem Krieg konnte sich General Mustafa Kemal auszeichnen. Kemal, der später als „Atatürk“ berühmt wurde, lehnte den Vertrag von Sevres ab und trat damit in offene Opposition zum Sultan und zu den Entente-Mächten. Kemal gründete eine Gegenregierung und organisierte den 1923 für die Rebellen erfolgreich endenden “Türkischen Befreiungskrieg“ gegen Besatzer, Griechen und Sultan.
1920 war aber nicht nur ein Jahr von Krieg, politischem Irrsinn und Hunger, sondern auch von Literatur, Film und Bühne. Zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres gehörten Ernst Jüngers kaltschnäuzige Krieger-Erinnerungen „In Stahlgewittern“ und die heitere Gedichtesammlung „Kuddel Daddeldu“ von Joachim Ringelnatz sowie Hugh Loftings märchenhafte Erzählung „Doktor Doolitle und seine Tiere“ und D. H. Lawrences heftig von Sittenwächtern beschimpfter Roman „Liebende Frauen“. Igor Strawinski sorgte 1920 mit der Premiere seines dramatischen Balletts „Der Gesang der Nachtigall“ für Aufmerksamkeit. Ernst Tollers Revolutions-Drama „Masse Mensch“ und Arthur Schnitzlers Komödie „Reigen“ lösten heftige Kontroversen aus. Gruselig ging es 1920 in der noch jungen Filmwelt zu: Bei den düsteren Stummfilmen „Das Cabinett des Dr. Caligari“ und „Der Golem, wie er auf die Welt kam“ war Gänsehaut garantiert. Gelacht wurde dagegen bei Ernst Lubitschs Frühwerk „Kohlhiesels Töchter“ und Douglas Fairbank brachte als Hollywood-Zorro in „Das Zeichen des Zorro“ nicht nur böse Buben reihenweise zur Räson, sondern auch Frauenherzen zum Schmelzen.