Was war wann - Info Chronik 1923

Chronik 1923

Die nur wenig mehr als 14 Jahre dauernde Weimarer Republik hat mit Ausnahme der vergleichsweise stabilen Periode von 1924 bis 1929 ausnahmslos Krisenjahre erlebt. Abgesehen vom Jahr der NS-Machtübernahme 1933 war 1923 mit Sicherheit das dramatischste Jahr in der kurzen Geschichte der Deutschen Republik. Es erschien den Beobachtern im Nachhinein beinahe wie ein Wunder, wie das unter den Folgen des verlorenen Ersten Weltkriegs schwer leidende Staatsgebilde die Herausforderungen des Jahres 1923 überhaupt überstehen konnte. Das Überleben der Republik war nicht zuletzt dem Glücksfall zu verdanken, in dieser Krisensituation mit Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) und den von einer Großen Koalition getragenen Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) zwei Männer an der Staatsspitze gehabt zu haben, die in der Lage waren, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Probleme, denen sich das demokratische Deutschland 1923 stellen musste, besaßen bereits jedes für sich enormes Gefährdungspotenzial, in ihrer Bündelung brachten sie die Republik in tödliche Gefahr. Zu Rheinlandbesetzung, Ruhrkampf und Hyperinflation kamen teilweise bürgerkriegsähnliche Konflikte der Reichsregierung mit Separatisten in Westdeutschland, mit kommunistischen Aufstandsbewegungen in Mitteldeutschland begünstigenden linken Landesregierungen und mit der rechten „Ordnungszelle Bayern“, durch die sich die Landesregierung offen der Reichsregierung widersetzte. Der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch am 8./9. November markierte den Höhe- und Wendepunkt der Staatskrise von 1923.
 Ende 1922 war die Mark aufgrund der durch die Finanzierung der Kriegskosten 1914/18 und durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Nachkriegszeit verursachten Inflation auf ein Tausendstel ihres Kaufwertes von 1914 gesunken. Die Reichsregierungen hatten kein anderes Mittel gefunden, der Finanzkrise Herr zu werden, als die Notenpresse der Reichsbank immer schneller laufen zu lassen. Eine Folge war die reale Entwertung von Löhnen und Geldvermögen mit der sich daraus ergebenden stetig wachsenden Verelendung immer breiterer Bevölkerungsschichten. Auf der anderen Seite profitierten Sachwertbesitzer aus Kreisen der ansonsten gern „nationale Interessen“ vollmundig beschwörenden Wirtschaftsführer häufig skrupellos vom Elend ihres Volkes. Ein besonders krasses und nicht nur bei der Linken verhasstes Beispiel eines Inflationsgewinnlers gab der Großindustrielle Hugo Stinnes ab. Die Inflation wurde 1923 zur noch Generationen später ein Horrorszenario für die Deutschen darstellenden Hyperinflation.
 Auslöser war der so genannte „Ruhrkampf“. Nachdem Frankreich Ende Dezember 1922 festgestellt hatte, dass Deutschland mit der Reparationslieferung von 100.000 Telegrafenstangen im Verzug war, drohte Ministerpräsident Raymond Poincaré die Besetzung des Ruhrgebiets als Faustpfand an. Nachdem auch der Rückstand von Kohlelieferungen festgestellt worden war, besetzten französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiets. Reichspräsident Ebert und der bürgerliche Reichskanzler Wilhelm Cuno (parteilos) reagierten mit der Proklamierung des „Passiven Widerstands“. Für eine kurze Periode einigte der „Ruhrkampf“ fast das ganze deutsche Volk vom extremen rechten Rand über Liberale und SPD-Anhänger bis zur extremen Linken. Beamte, insbesondere Eisenbahner, Angestellte und Arbeiter verweigerten den Besatzungsmächten im Ruhrgebiet die Zusammenarbeit. Frankreich und Belgien konnten deshalb zunächst nicht wie geplant Kohle und andere Rohstoffe abtransportieren. Die Besatzer reagierten mit Sanktionen und massenhaften Ausweisungen. Es kam zu Zusammenstößen mit der Bevölkerung und aktivistischen Gruppen. Dabei kamen zahlreiche Menschen ums Leben, darunter auch der von den Nazis zum Märtyrer-Heros verklärte Saboteur Albert Leo Schlageter.
 Durch die Abschnürung des für die deutsche Wirtschaft lebenswichtigen Ruhrgebietes brach das Finanzsystem in Deutschland endgültig zusammen. Für einen US-Dollar, der Anfang Januar 7500 Mark wert gewesen war, mussten am 1. September fast 10 Millionen Mark gezahlt werden. Ende Dezember erreichte das Verhältnis den Stand von 4,2 Billionen Mark zu einem US-Dollar. Da die Regierung die versprochenen Ausgleichszahlungen an die vom Ruhrkampf betroffenen Menschen nicht leisten konnte, kam es im August zu massiven Protest-Streiks reichsweit. In Folge trat Cuno als Reichskanzler zurück und machte den Weg frei für eine aus SPD, Zentrum, DDP und DVP gebildete Große Koalition unter der Führung des Nationalliberalen Gustav Stresemann. Die neue Regierung erklärte mit Rückendeckung von Ebert den nicht mehr verantwortbaren Ruhrkampf am 26. September für beendet. Reaktion war der wütende Vorwurf vom rechten, auf den Untergang der Republik spekulierenden Lager, sich des Verrats am deutschen Volk schuldig zu machen. Insbesondere in Bayern, das sich zu einem reichsfeindlichen Sammelbecken zahlreicher rechtsextremer Gruppen und Grüppchen entwickelt hatte, war der Protest groß. Am 27. September erklärte die bayerische Landesregierung den Ausnahmezustand und ernannte den ultrarechten Gustav Ritter von Kahr zum mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Generalstaatskommissar. Kahr konnte sich auf die bayerische Reichswehrdivision verlassen, deren Kommandeur Otto von Lossow sich weigerte, Befehle aus Berlin zu akzeptieren. Der Chef der Heeresleitung, der undurchsichtige General Hans von Seeckt, gab Stresemann zu verstehen, dass die restliche Reichswehr nicht bereit wäre, gegen die bayerischen Meuterer zu marschieren.
 Dem Bestand der Deutschen Republik drohte nicht nur von der „Ordnungszelle Bayern“ Gefahr wo sich die Protagonisten der rechten Szene, wie der ehemalige Militärdiktator Ludendorff, Kahr und Nazi-Führer Hitler über ihr weiteres Vorgehen stritten. In Sachsen hatte der SPD-Ministerpräsident Erich Zeigner begonnen, zur Abwehr der rechten Gefahr, zusammen mit der KPD „Proletarische Hundertschaften“ genannte Wehrorganisationen zu bilden. Auch in Thüringen wurden Proletarische Hundertschaften aufgestellt. In Moskau und in der KPD-Zentrale wurde das Klima als umsturzgünstig eingeschätzt und Aufstandspläne ausgearbeitet. Nach dem Bruch der sächsischen Regierung mit Berlin wurde Sachsen und Thüringen im Zuge einer Reichsexekution Ende Oktober von Reichswehr besetzt und die Proletarischen Hundertschaften aufgelöst. Die von der KPD erwartete Empörung der Arbeiterschaft hielt sich in Grenzen. Lediglich in Hamburg kam es am 24. Oktober unter der Führung von Ernst Thälmann zu einem isolierten kommunistischen Aufstand, der rasch niedergeschlagen wurde.
 Gleichzeitig bildeten sich unter Führung politischer Abenteurer im Rheinland und der zu Bayern gehörenden Pfalz separatistische Gebiete, die zunächst von der französischen Besatzungsmacht unterstützt wurden. Aber sowohl die „Rheinische Republik“ als auch die „Autonome Pfalz“ verschwanden im Zuge der Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen im Folgejahr von der Landkarte.
 In München versuchte Adolf Hitler die Initiative an sich zu reißen. Durch einen nach Vorbild des den italienschen Faschisten-Führer Mussolini 1922 an die Macht gebrachten „Marsches auf Rom“ sollte die vereinige Rechte auf Berlin marschieren. Mit vorgehaltener Pistole zwang er am 8. November im Münchener Bürgerbräukeller Kahr, Lossow und Polizeichef Seisser zur Zusage, sich seiner „nationalen Revolution“ anzuschließen. Die Herren dachten aber gar nicht daran, sich von einem „demagogischen Revoluzzer im Gefreitenrang“ dominieren zu lassen. Hitler konnte aber den Ex-General Ludendorff zum „Marsch auf die Feldherrnhalle“ an Folgetag bewegen. Der dilettantisch organisierte Aufmarsch, der als Initialzündung für die braune Revolution wirken sollte, wurde durch Seissers Landespolizei blutig gestoppt. Hitler kam in Haft. Mit dem Scheitern des Hitler-Ludendorff-Putsches wurde der fraktionierten Ultrarechten in Bayern deutlich, dass es für einen Umsturz noch zu früh war. Die Beziehungen der bayerischen Staatsführung zu Berlin begannen sich wieder zu normalisieren.
 Dort hatte die Regierung Stresemann begonnen, Verhandlungsfühler nach Frankreich auszustrecken. Außerdem hatte die Reichsregierung, gestützt auf ein Ermächtigungsgesetz (13. Oktober), eine Reihe von Anordnungen getroffen, die die desolate Wirtschaftslage verbessern sollten. Dabei hatte die Bildung der Rentenbank (16. Oktober) besondere Bedeutung. Fiktiv von Grund und Boden gedeckt löste die von der Rentenbank ab 15. November ausgegebene Rentenmark die wertlose Papiermark ab. Die bewusst sehr knapp ausgegebene Rentenmark entsprach 4, 20 US-Dollar. Die als Übergangswährung konzipierte Rentenmark schuf rasch Vertrauen und blieb bis 1948 im Umlauf. 1924 wurde sie durch die Reichsmark ergänzt.
 In der Türkei, wo 1922 mit der Abschaffung des Sultanats die Ablösung des abgewirtschafteten Osmanischen Reiches die Etablierung der Republik Türkei eingeleitet hatte, konnte der Führer der Nationalbewegung, Kemal Pascha, einen weiteren Erfolg verbuchen. Nach einem mehrjährigen Kampf war es gelungen, wesentliche Elemente des nach dem Ersten Weltkrieg zwischen den Siegermächten und Kriegsverlierer Osmanisches Reich geschlossenen Vertrags von Sevres (1920) zu revidieren. Im Vertrag von Lausanne (24. Juli) wurde vor allem die Abtretung Ostanatoliens (an Armenien) sowie Westanatoliens und Ost-Thrakiens (an Griechenland) zurückgenommen. Im Oktober rief Kemal in der neuen Hauptstadt Ankara endgültig die Republik aus. Kemal wurde der erste Präsident der Republik und blieb es bis zu seinem Tod 1938. 1934 verlieh ihm das Parlament den Ehrennamen „Atatürk“ (= „Vater der Türken“).
 Irland kam nach Beendigung des 1922 ausgebrochenen Bürgerkriegs zu relativer Ruhe. Die den Anglo-Irischen Vertrag von 1922 befürwortete Partei hatte über die radikalen Republikaner gesiegt. Im Ergebnis wurde die Teilung Irlands in ein mehrheitlich protestantisches Nordirland als Teil des Vereinigten Königreiches und des mehrheitlich katholischen Freistaates (Süd-)Irland zementiert.
 Die USA wurden 1923 vom Herztod ihres Präsidenten Warren G. Harding überrascht (Nachfolger: Vizepräsident Calvin Coolidge). Der in den USA enorme Rassenhass fand 1923 einen besonders drastischen Niederschlag: Im Massaker von Rosewood machte ein weißer Mob ein ganzes, vorwiegend von Afroamerikanern bewohntes, Dorf in Florida dem Erdboden gleich (acht Tote).
 1923 war aber auch das Jahr, in dem der populärste Modetanz der Zwanziger Jahre, der Charleston, bekannt wurde. 1923 erschien die erste Ausgabe des TIME-Magazins und die erste Bauhaus-Ausstellung zog in Weimar die Besucher an. Das Wembley-Stadion in London wurde eröffnet und das weltweit umstrittene Todesurteil gegen die mutmaßlich schwangere Engländerin Edith Thompson kam zur Vollstreckung.