Chronik 1924
Für Deutschland bedeutete das Jahr 1924, Hoffnung schöpfen zu können, endlich die Misere der auf den Ersten Weltkrieg folgenden Krisenjahre beenden zu können. Nach November-Revolution, Kapp-Putsch, Ruhr-Kampf, Aufständen und politischen Morden von Rechts- und Linksradikalen, Konflikten wegen der Reparations-Forderungen der Siegermächte, Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation schien es plötzlich für das verelendete und in feindliche Lager zerrissene deutsche Volk tatsächlich eine Chance auf mögliche Stabilisierung und Aufschwung zu geben. Die Hoffnung machte sich vor allem an zwei Sachverhalten fest: An der Einführung der Reichsmark und der Umsetzung des Dawes-Plans.
Auf dem Höhepunkt der Hyperinflation von 1923 war die Mark praktisch nichts mehr wert gewesen. 4,2 Billionen Mark entsprachen auf dem Höhepunkt der Inflation einem US-Dollar. Die in unvorstellbaren Mengen und Varianten gedruckten Papiermark-Scheine wurden schließlich zu Nennwerten von bis zu fünf Billionen Mark gedruckt. Mit der Gründung der Deutschen Rentenbank im Oktober 1923 hatte die Reichsregierung unter der Kanzlerschaft von Gustav Stresemann (DVP) die Grundlage für die, zumindest in der Theorie, durch Grundbesitz gedeckte Einführung der Rentenmark (15. November) schaffen können. Mit dem allmählichen Zufluss der als Übergangswährung konzipierten Rentenmark (Rent. M.) in den Geldumlauf gelang die Wiederherstellung des verloren gegangenen Vertrauens von Wirtschaft und Bevölkerung in die deutsche Währung. Dabei waren die in nur relativ geringen Mengen in den Verkehr gebrachten Rentenmark-Banknoten und Rentenpfennig-Münzen rechtlich gesehen gar kein Zahlungsmittel, sondern Inhaberschuldverschreibungen der Rentenbank. Parallel zur (bis 1948 gültigen) Rentenmark wurde am 30. August 1924 die Reichsmark (RM) als neues Zahlungsmittel eingeführt. Der Wert der RM wurde 1 : 1 zur Rentenmark gestellt. Auf bei der Reichsmark wurde darauf geachtet, das Geldvolumen zunächst gering zu halten.
Neben der Einführung einer harten Währung war die Unterzeichnung des nach dem damaligen US-Vize-Präsidenten benannten, auf einer internationalen Sachverständigenkommission vom Januar bis April ausgearbeiteten Dawes-Plans von erheblicher Bedeutung für die Erholung der deutschen Wirtschaft. Dem Plan wurde am 16. August von der deutschen Regierung auf der Londoner Konferenz als völkerrechtlicher Vertrag zugestimmt. Zwei Wochen wurde der Plan vom Reichstag angenommen. Kern des Vertrages war eine Anpassung der deutschen Reparationsverpflichtungen an die Wirtschaftskraft Deutschlands und erhebliche Kreditzusagen der USA. So sollte sich die deutsche Wirtschaft erholen und in Folge die auf 57 Jahres-Raten aufgeteilten Reparationsleistungen leistbar sein können. Bei den rechten Parteien stieß der Dawes-Plan auf Ablehnung, weil er angeblich die „Schuldknechtschaft bis in die Enkelgeneration“ festschrieb und Deutschland abhängig von den Kreditgebern der „jüdisch-plutokratischen Wall Street“ machen würde. Einer der Architekten des Dawes-Plans war Gustav Stresemann, der zwar im November 1923 als Kanzler gestürzt worden war, im folgenden Kabinett des neuen Reichskanzlers Wilhelm Marx (Zentrum) aber als Außenminister weiter präsent blieb.
Der Dawes-Plan war eines der zentralen Themen in den beiden Reichstagswahlkämpfen des Jahres. Hatten bei den Wahlen am 4. Mai die extremen Rechts- und Linksparteien vor allem wegen der Nachwirkungen des Krisenjahres 1923 noch kräftig zulegen können, ging der Trend bei den Wahlen am 7. Dezember bereits eindeutig in Richtung Sozialdemokratie und Konservative einschließende bürgerliche Mitte. So erreichten die Nationalsozialisten, die im Mai noch 6,5 % der Stimmen auf sich vereinen konnten, im Dezember lediglich 3 %. Die KPD fiel von 12,6 auf 9,6 %. Zur breiteren Akzeptanz des von Dawes-Plan und internationaler Kooperation geprägten Politik Stresemanns hatte unter anderem die Verständigung über den Abzug der französischen und belgischen Truppen aus dem seit 1923 besetztem Ruhrgebiet geführt. So konnten schließlich auch die Abgeordneten der ursprünglich zum Lager der Dawes-Plan-Gegner zählenden rechtskonservativen DNVP (Deutschnationale Volkspartei) zur Zustimmung überzeugt werden
Der „Führer“ der nach dem fehlgeschlagenen Hitler-Ludendorff-Putsch („Marsch auf die Feldherrnhalle“, 9. November 1923) kurzzeitig verbotenen NSDAP, Adolf Hitler, musste sich im Februar 1924 in München zusammen mit Ex-Weltkriegs-General Erich von Ludendorff vor dem Volksgericht wegen Hochverrats verantworten. Bei dem Putschversuch waren unter anderen vier bayerische Landespolizisten getötet worden. Der unter dubiosen, rechtlich unzulässigen Voraussetzungen (zuständig war eigentlich das Reichsgericht in Leipzig) ablaufende Hochverratsprozess, bei dem Staatsanwalt und Richter den Angeklagten gegenüber viel Wohlwollen zeigten, endete mit der Verurteilung Hitlers zur Mindeststrafe von fünf Jahren als nicht ehrenrührig geltender Festungshaft. In seiner Zelle im Gefängnis Landsberg am Lech machte Hitler Pläne für die von Auflösung bedrohte Nazi-Partei und schrieb den ersten Teil seines programmatischen Hauptschriftwerkes „Mein Kampf“. Bereits nach knapp neun Monaten wurde Hitler auf Bewährung auf freien Fuß gesetzt.
Mit einem anderen 1924 mindestens ebenso bekannten Kriminellen wurde dagegen nicht so rücksichtsvoll umgegangen. Der Hannoveraner Fritz Haarmann wurde im Dezember 1924 wegen 24-fachen Mordes an Jungen und Jugendlichen angeklagt. Der großes öffentliches Aufsehen erregende Prozess, bei dem es auch um die fragwürdige Rolle der Polizei ging, endete mit dem Todesurteil. Ob Haarmann, der 1925 unter dem Fallbeil endete, seine Opfer, zu Fleischkonserven verarbeitet hatte, wie gemutmaßt wurde, blieb ungeklärt.
In der Sowjetunion ging der Machtkampf zwischen Partei-Generalsekretär Josef Stalin und dem für das Militär zuständigen Volkskommissar Leo Trotzki um die Macht nach dem Tod (21. Januar) des seit 1922 krankheitsbedingt funktionsunfähigen Regierungschefs und Staatsgründers Wladimir Lenin in die entscheidende Phase. Stalin betrieb mit Nachdruck und Geschick die Isolierung Trotzkis in der Bolschewiki-Partei und die Abberufung Trotzkis von seinem Posten als Kriegskommissar.
Mit dem Labour-Mann Ramsay MacDonald wurde 1924 erstmals ein Vertreter einer Arbeiterpartei (für elf Monate) Premierminister in Großbritannien.
Sportbegeisterte kamen 1924 bei den VII. Olympischen Sommer-Spielen in Frankreichs Hauptstadt auf ihre Kosten. Leichtathletik-Geschichte schrieb dabei die „Hitzeschlacht von Colombes“. Am 12. Juli traten 38 Olympioniken bei einer Gluthitze von weit über 40 Grad zum 10,65-Kilometer-Querfeldeinlauf an. Nach 32 Minuten und 54,8 Sekunden erreichte mit Paavo Nurmi ein aus dem kühlen Norden stammender Ausnahmeläufer als Erster die Ziellinie. Außer dem Finnen schafften nur 14 weitere Athleten den Lauf über die schattenlose Strecke. Deutsche Sportler waren 1924 noch von den Olympischen Spielen ausgeschlossen.
1924 wurde durch den Zusammenschluss der Autofirmen Daimler und Benz die bald Weltberühmtheit erlangende Nobelmarke „Mercedes-Benz“ geschaffen. Im selben Jahr öffnete erstmals die Berliner Funkausstellung ihre Pforten und bei der Londoner British Empire Exhibition präsentierte sich Großbritannien in seiner ganzen Pracht als Kolonialmacht.
Filmfans freuten sich 1924 über die Monumentalstreifen „Quo Vadis“ und „Nibelungen“ (Regie: Fritz Lang), Friedrich W. Murnaus tragischem „Der letzte Mann“ mit Emil Jannings und dem märchenhaften „Dieb von Bagdad“ mit Douglas Fairbanks in der Starrolle. Bücherleser bekamen mit dem Thomas-Mann-Roman „Der Zauberberg“ und Herman Melvilles „Billy Budd“ gewichtige Neuerscheinungen in die Hand. Und: Im mexikanischen Tijuana wurde im Restaurant „Caesar´s Place“ am 4. Juli der „Caesar Salad“ erfunden.