Chronik 1926
1926 war das wahrscheinlich am meisten befriedigende Jahr in der Karriere des deutschen Außenministers Gustav Stresemann, der auch Parteivorsitzender der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) war. 1925 war ihm zusammen mit dem französischen Außenminister Aristide Briand gelungen, durch den Vertrag von Locarno das seit Ende des Ersten Weltkrieg geächtete Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied wieder einen Platz im Kreis der Mächte zu sichern. Durch die Garantie der deutschen Grenzen zu Frankreich und Belgien, durch die Vereinbarung von Gewaltverzicht und vor allem durch die Aufnahme in den Völkerbund war Deutschland wieder zum anerkannten Mitglied der Völkerfamilie geworden. Der im Dezember 1925 unterzeichnete Vertrag sollte mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund in Kraft treten. Obwohl zugesagt war, dass Deutschland einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat - einen dem späteren UNO-Sicherheitsrat vergleichbaren Gremium - erhalten sollte, reiste die deutsche, von dem bürgerlich-liberalen Reichskanzler Hans Luther (parteilos) geleitete Delegation im April 1926 ohne Aufnahme in den Völkerbund wieder aus Genf, dem Sitz des Völkerbundes, ab. Keiner der damaligen Mitgliederstaaten im Völkerbundsrat war bereit gewesen, für Deutschland seinen Platz zu räumen. Erst am 8. September, nach einer Erweiterung des Völkerbundsrats auf fünf ständige (Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Deutschland) und zwölf nichtständige Mitglieder, ließ sich das Deutsche Reich feierlich in den Völkerbund aufnehmen.
Im Frühling hatte Stresemann mit dem Abschluss des Berliner Vertrags (24. April) ein Anschluss-Abkommen des deutsch-sowjetischen Vertrags von Rapallo (1922) unter Dach und Fach bringen können. Der wenig Substantielles beinhaltende Vertrag hatte vor allem den Zweck, der UdSSR, aber auch den Westmächten gegenüber zu signalisieren, dass Deutschland auch nach dem Abschluss des Locarno-Vertrags weiterhin an einer dauerhaften Zusammenarbeit mit der Sowjetunion interessiert sei.
Für ihre Zusammenarbeit bei dem durch den Locarno-Vertrag gekrönten Versuch, eine tragfähige Friedensordnung in Europa zu gestalten, wurden Stresemann und Briand 1926 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Innenpolitisch wurde Deutschland 1926 durch einen Konflikt bestimmt, der in seiner Substanz eher nachrangig war, aber durch die emotional geführten Diskussionen besonders deutlich auf die Gräben hinwies, die durch die deutsche Bevölkerung gingen. 1919 war die traditionsreiche Trikolore Schwarz-Rot-Gold statt der kaiserlichen Schwarz-Weiß-Rot-Flagge zur Nationalflagge des Deutschen Reiches bestimmt worden. Die Handelsflagge allerdings war als Zugeständnis an konservative Kräfte weiterhin Schwarz-Weiß-Rot mit einem kleinen schwarz-rot-goldenen Viereck im mastseitigen Obereck (Gösch) des Flaggentuchs, ebenso die mit einem großen Eisernen Kreuz ergänzte Flagge der Reichsmarine-Schiffe. Das Nebeneinander von Schwarz-Rot-Gold und dem historisch jüngeren Schwarz-Weiß-Rot sorgte nicht für Gemeinsamkeit, sondern war ständiger Grund für flaggensymbolische Konfrontation. Während sich die Befürworter des Weimarer Staates mit den offiziellen Reichsfarben identifizierten, lehnte die Rechte „Schwarz-Rot-Senf“ als „Judenfahne“ ab. Stahlhelm und andere rechtsnationale, gerne in Uniformen hin- und hermarschierende Wehrorganisationen trugen die alte, für Anti-Demokratie stehende Flagge des Kaiserreichs vor sich her. Als Reaktion nannte sich die Saalschutz-Organisation der SPD „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Einige wenige einsame Rufer in der Wüste, wie der Schriftsteller Willy Haas, waren des ewigen Streits um textile Symbole leid und forderten vergeblich die Abschaffung von Staats- und Parteifahnen. Reichskanzler Luther versuchte mit letztlich untauglichen Mitteln den Flaggenstreit zu entschärfen. Er überschätzte dabei die Kompromissfähigkeit des pöbelbereiten Teils seiner Landsleute gründlich. Die auf seine Veranlassung hin von Reichspräsident Hindenburg am 5. Mai erlassene Flaggenverordnung schrieb vor, dass vor den Konsulaten und Botschaften des Deutschen Reiches Reichs- und Handelsflagge nebeneinander aufgezogen werden sollten. Damit sorgte Luther, der es allen Parteien recht tun wollte, allerdings nicht für Besänftigung, sondern für tumultartige Proteste von allen Seiten und höhnisches Gelächter von der extremen Linken. Am 12. Mai stürzte Luther über ein in dieser Sache angestrengtes Misstrauensvotum im Reichstag. Sein Nachfolger wurde der Zentrums-Vorsitzende Wilhelm Marx, der damit bereits zum dritten Mal als Reichskanzler einem bürgerlichem Minderheits-Kabinett („Marx III“) vorstand.
Parallel zum Flaggenstreit war es in Deutschland im Zusammenhang mit von der KPD initiierten Volksbegehren (März) und Volksentscheid (20. Juni) über die entschädigungslose Enteignung der Fürstenhäuser zu Emotionen gekommen, die dem des Flaggenstreits nahe kamen. Das schließlich auch von SPD und weiten Teilen der bürgerlichen Mitte unterstützte Plebiszit traf auf den Widerstand von Hindenburg sowie von Großindustrie und ostelbischen Junkern, die den Volksentscheid öffentlichkeitswirksam zu einer Frage „Privateigentum, ja oder nein?“ umzudeuten versuchten. Letztlich war der Druck ostelbischer, zum Boykott des Volksentscheids aufrufender Gutsbesitzer auf die von ihnen abhängigen Dorfbevölkerungen mitentscheidend für das Scheitern des Plebiszits.
Im selben Jahr kam es in Polen zum Umsturz. 1922 hatte sich der Staatsgründer und Präsident Marschall Józef Piłsudski aus dem politischen Tagesgeschäft zurückgezogen. Die Zweite Polnische Republik hatte mit erheblichen innen- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen, die mit denen der Weimarer Republik vergleichbar waren. Mit Unterstützung der Armee, Gewerkschaften und der sozialistischen Partei PPS putschte Pilsudski 1926 gegen die wenig Rückhalt in der Bevölkerung besitzende Regierung von Premier Wincenty Witos (12. - 15. Mai). Nach dem etwa 400 Menschenleben kostenden „Maiputsch“ übernahmen Pilsudski-Vertraute die Regierung. Pilsudski selbst begnügte sich formal mit dem Amt des Verteidigungsministers, bestimmte aber bis zu seinem Tod 1935 autoritär den Kurs des polnischen Staates.
Auch in dem anderem europäischen P-Land, nämlich Portugal, kam es im Mai 1926 zum Umsturz und zur Etablierung eines autoritären Regimes. General Manuel de Oliveira Gomes da Costa stürzte die Regierung der Ersten Portugiesischen Republik und machte den Weg frei für eine Militärdiktatur, aus der sich die ständestaatliche Diktatur „Estado Novo“ von António de Oliveira Salazar entwickelte. Das „Estado Novo“-System hatte bis zur „Nelkenrevolution“ 1974 Bestand.
In der Sowjetunion baute der Generalsekretär der Bolschewiki-Partei, Josef Stalin, seine Macht weiter aus. Die innerparteilichen Konkurrenten Lew Kamenew und Grigorij Sinowjew konnte er ebenso wie Leo Trotzki aus dem Politbüro drängen und somit weitgehend isolieren.
Für die überwiegende Mehrzahl der weiblichen Kinofans weltweit waren die Ereignisse in der Sowjetunion im Verhältnis zum Tod ihres Idols vollkommen belanglos. Am 23. August war das erste männliche Sex-Symbol der Filmgeschichte, der Italo-Amerikaner Rudolf Valentino („The Sheik Scheich“), unter dramatischen Umständen in einem New Yorker Krankenhaus im Alter von 31 Jahren gestorben. Zu Valentinos Beerdigung, bei der seine Leiche von einer aufgebahrten Wachskopie gedoubelt wurde, strömten 100.000 Trauernde und Schaulustige zusammen.
Nicht nur der Tod von Valentino bewegte 1926 die noch immer vollkommen stumme Filmwelt. Für Aufsehen sorgten auch Premieren von späteren Film-Klassikern wie Buster Keatons Komik-Abenteuer „The General“, der deutsche Gruselfilm „Der Student von Prag“ , F. W. Murnaus „Tartuffe“ und „Faust“ (Hauptrolle in beiden Streifen: Emil Jannings) oder Wsewolod Pudowkins pathetisches Revolutionsdrama „Die Mutter“.
Wichtige Neuerscheinungen im Buchhandel waren 1926 neben vielen anderen Büchern Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, Leon Feuchtwangers „Die hässliche Herzogin Margarete Maultasch“, Ernest Hemingways erster größerer Roman „Fiesta“ und der Kinderbuch-Klassiker von Alan Alexander Milne „Pu der Bär“.