Chronik 1927
1927 überschritt die Weltbevölkerungszahl die Zwei-Milliarden-Einwohner-Marke.
Das Jahr 1927 war für die Weimarer Republik gemessen an vorangegangenen Dauerkrisenzeiten ein ruhiges Jahr. Allerdings war die Republik politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich weiterhin weit davon entfernt, als stabiles Gemeinwesen gelten zu können. Die Zerbrechlichkeit der ökonomischen Grundlage war am 13. Mai, dem „Schwarzen Börsenfreitag“, offensichtlich geworden, als der Durchschnittskurs an der Berliner Börse nach Maßnahmen der Reichsbank gegen die ausufernde Spekulation mit bankkreditgestützten Effektenkäufe von 204 auf 139 Punkte abstürzte. In den folgenden Monaten konnten sich die Kurse zwar wieder auf einem abgesenkten Niveau erholen, der 1927er Beinahe-Krach gab aber einen Vorgeschmack auf den desaströsen „Black Friday“ im Oktober 1929.
Die Republik war aber immerhin so gefestigt, dass sie sich erlauben konnte, einige im Weltmaßstab vorbildliche sozialpolitische Reformen durchzuführen. Am 6. Juli verabschiedete der Reichstag in seltener Beinahe-Einmütigkeit (355 Ja-Stimmen, 47 Gegenstimmen, 15 Enthaltungen) ein Gesetz, mit dem zum ersten Mal ein Rechtsanspruch von Arbeitslosen auf Arbeitslosenunterstützung im Rahmen einer staatlichen Zwangsversicherung festgeschrieben wurde. Damit wurde die bis dahin praktizierte provisorische Erwerbslosenunterstützung auf Kommunalebene abgelöst, die mit einer häufig tatsächlich oder gefühlt ungerechten Bedürftigkeitsüberprüfung verbunden gewesen war. Arbeitgeber und Arbeitnehmer mussten die Beiträge (3 % vom Lohn) zur Arbeitslosenversicherung jeweils hälftig an eine neu gegründete Reichsbehörde mit der abenteuerlich klingenden Abkürzung „RAfAuA“ („Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“) abführen. Gleichzeitig mit der Arbeitslosenversicherung wurde auch ein Mutterschutz-Gesetz verabschiedet. Das Gesetz billigte den Müttern sechs Wochen vor und sechs Wochen nach der Entbindung Kündigungsschutz bei Freistellung von der Arbeit zu. Eine Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers gab es zwar nicht, aber immerhin ein, im Vergleich zum Arbeitslohn geringeres, “Wochengeld“ der gesetzlichen Krankenversicherung. In der Landwirtschaft oder im Haushalt beschäftigte Frauen waren allerdings vom Mutterschutz ausgenommen.
Diese Diskriminierung war nicht zuletzt auf die effektive Lobbyarbeit der ostelbischen, häufig adligen Großgrundbesitzer zurückzuführen, deren Typus oft dem des westpreußischen Gutsbesitzer Elard von Oldenburg-Januschau entsprach. Der bei Linken und Liberalen als Prototyp des antidemokratischen, engstirnigen und Menschen außerhalb seiner Klasse verachtenden und schindenden Junkers verhasste Oldenburg-Januschau gehörte zur so genannten “Hindenburg-Kamarilla“. Dieser enge, erheblichen Einfluss auf den greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ausübende Kreis inoffizieller Berater bestand unter anderem aus dem „nicht in der Verfassung vorgesehenen“ Hindenburg-Sohn Otto, dem intriganten Reichswehroffizier Kurt von Schleicher (1932/33 Reichskanzler) und dem DNVP-Politiker Elard von Oldenburg-Januschau, dessen Gut an das Familiengut der Hindenburgs grenzte.
Hindenburg, der 1926 zum Staatsoberhaupt der Deutschen Republik gewählte höchste deutsche Militär der letzen zwei Jahren des Ersten Weltkriegs, lehnte wie viele seiner Wähler als Monarchist die Republik als Staatsform ab. Seine Anhänger sahen in Hindenburg bald eine Art Ersatzkaiser, nach dem Plätze, Straßen und der 1927 eingeweihte Eisenbahndamm zwischen nordfriesischem Festland und der Insel Sylt benannt wurden.
Anlässlich seines 80. Geburtstags bekam Hindenburg ein ganz besonderes Geschenk. Das Familiengut Neudeck lag in dem Teil Westpreußens, der 1920 nicht an Polen, sondern als „Regierungsbezirk Westpreußen“ der angrenzenden Provinz Ostpreußen zugeschlagen worden war. Paul von Hindenburg, der sich oft auf dem seit 1755 im Besitz der Hindenburgs befindenden Gut aufhielt, gehörte das Gut nicht, sondern der Witwe seines älteren Bruders. Das völlig überschuldete Gut befand sich 1927 faktisch im Eigentum eines Kreditinstituts. Oldenburg-Januschau organisierte anlässlich des 80. Hindenburg-Geburtstags 1927 eine Sammelaktion, bei der vornehmlich durch Spenden von Großagrariern und Mitgliedern des Industrie-Verbandes genügend Geld zusammenkam, um Gut Neudeck zu entschulden und Hindenburg als „Geschenk des deutschen Volkes“ zukommen zu lassen. Der ansonsten so ehrpusselig auf „preußische Tugenden“ wie Unbestechlichkeit pochende Reichspräsident nahm das Geschenk dankend an. Er funktionierte das aufwendig erweiterte und renovierte Gut Neudeck zum ländlichen Nebenamtssitz um. Aus erbsteuerlichen Gründen wurde das Gut formal Sohn Oskar übereignet. Hindenburg erhielt Wohnrecht. Diese materiell clevere Regelung sollte einige Jahre später im Zusammenhang mit großzügigen Subventionen für die ostdeutsche Agrarwirtschaft („Osthilfe-Skandal“) eine wichtige Rolle spielen und Hindenburgs Ansehen als Ehrenmann erheblich schädigen.
Im Januar 1927 nahm nach dem Sturz des 3. Kabinetts Marx durch ein Misstrauensvotum der SPD im Vorjahr wegen der geheimen Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee das 17. Kabinett seit Gründung der Deutschen Republik im November 1918 sein Arbeit auf. Der neue hieß wie der alte Kanzler Wilhem Marx (Zentrum). Für sein viertes (und letztes) Kabinett hatte Marx neben dem Zentrum auch die Bayerische Volkspartei, die DVP und die DNVP gewinnen können. Diese „Bürgerblock“ genannte, für einen deutlichen Rechtsruck stehende Regierung, in der Gustav Stresemann (DVP) weiterhin dem Außenressort vorstand, konnte erstmals seit langem auf eine Mehrheit im Reichstag bauen.
Stresemann setzte sich auch 1927 weiter für eine Annäherung an Frankreich und Großbritannien ein. Teilerfolge sind die Auflösung der alliierten Militärmission in Deutschland (31. Januar) und der Abschluss eine deutsch-französischen Handelsvertrags mit gegenseitigen Begünstigungsklauseln (17. August) gewesen. Gegenüber Polen zeigte Stresemann dagegen wenig Entgegenkommen und lehnte im Zusammenhang mit der Diskussion um ein eventuelles „Ost-Locarno“ die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenzen strikt ab.
Für innenpolitischen Ärger sorgten regelmäßige Straßenschlachten zwischen KPD- und NSDAP-Anhängern sowie die „Phoebus-Affäre“. Weil sich Reichswehrminister Otto Geßler weigerte, Details im Zusammenhang mit „schwarzen Kassen“ der Reichsmarine, aus denen unter anderem auch die marode Film-Gesellschaft Phoebus Zuschüsse erhalten hatte, zu nennen, geriet er in heftige öffentliche Kritik und musste schließlich Anfang 1928 zurücktreten.
Großes Aufsehen in der Öffentlichkeit löste 1927 auch die „Stegitzer Schülertragödie“ aus. Zwei Gymnasiasten aus Berlin-Steglitz hatten beschlossen, sich aus enttäuschter Liebe selbst zu töten und vorher noch zwei andere Jugendliche, Objekte ihrer enttäuschten Liebe, umzubringen. Nur einer der beiden hielt sich an den Pakt, wurde zum Mörder und beging danach Suizid. Der andere Schüler wurde lediglich zu einer dreiwöchigen Haftstrafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt.
In den USA mussten 1927 etwa 700.000 Einwohner wegen der größten Fluss-Überschwemmung des 20. Jahrhunderts in Nordamerika, der „Großen Mississippi-Flut“, ihre Häuser verlassen. Es wurde eine Fläche so groß wie Irland überflutet. Im selben Jahr wurden die beiden italo-amerikanischen Anarchisten Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti in einem fragwürdigen Prozess als angebliche Raubmörder zum Tode verurteilt und trotz weltweiter Proteste am 23. August in Charleston, Massachusetts, hingerichtet.
In China brach 1927 der Bürgerkrieg zwischen Anhängern der Kommunistischen Partei unter Führung von Mao Tse-tung und dem rechten Flügel der Kuomintang unter Tschiang Kai-schek aus. Der zeitweilig unterbrochene Konflikt endete erst 1949 mit dem Sieg Mao Tse-tungs und der Gründung der Volksrepublik China.
Für weltweites Aussehen sorgte im Mai 1927 der erste Nonstop-Flug eines Einzelpiloten über den Atlantik. Am 21./22.Mai flog der US-Pilot Charles Lindbergh mit seinem einmotorigen Flugzeug „Spirit of St. Louis“ in 33 Stunden und 30 Minuten von Paris nach New York ohne Zwischenlandung und wurde zum Nationalhelden. Auf dem Weg zum Nationalheros war 1927 auch ein junger Sportsmann aus Vorpommern: Der 21-jährige, damals noch in der Halbschwergewichtsklasse antretende Profiboxer Max Schmeling besiegte in der Dortmunder Westfalenhalle den Belgier Fernand Delarge in der 14. Runde durch technisches K.O. und errang mit dem Europameister-Titel seinen ersten großen internationalen Erfolg.
Die deutsche Film-Welt wurde ab März 1927 zunehmend deutschnationaler: Der DNVP-Spitzenpolitiker (ab 1928 Parteivorsitzender) und Medienunternehmer Alfred Hugenberg kaufte die finanziell angeschlagene UFA und gliederte das bedeutendste deutsche Film-Unternehmen seinem stramm rechts ausgerichteten Konzern ein. Noch in der Vor-Hugenberg-Zeit der UFA wurde der möglicherweise wichtigste UFA-Film produziert. Mit fünf Millionen Reichsmark Produktionskosten gehörte der von Fritz Lang inszenierte SF-Klassiker „Metropolis“ zu den teuersten deutschen Filmen der Stummfilm-Zeit.
In New York wurde am 6. Oktober mit der Premiere des Warner-Brothers-Streifens „The Jazz Singer“ ein fundamentales Kino-Ereignis gefeiert. Der von Alain Crosland in Szene gesetzte „Jazzsänger“ war der erste abendfüllende Tonfilm der Kinogeschichte. Hauptdarsteller Al Jolson, einer der großen U-Musik-Stars der 20er Jahre, sang „Toot Toot Tootsie“, „Mammy““ und einige andere seiner Hits. In dem als eine recht banal-kitschige Mischung aus Musical-Tonfilm und Stummfilm-Drama konzipierten Streifen tauchten nur wenige, wahrscheinlich improvisierte, Sprechsequenzen auf. „The Jazz Singer“ wurde eine Sensation und bewirkte das baldige Ende der Stummfilm-Ära.
Wer sich 1927 nicht für Kino-, sondern für Literatur-Novitäten interessiert hatte, wird sich wahrscheinlich über Neuerscheinungen wie dem „Steppenwolf“-Roman von Hermann Hesse, der Novelle „Episode am Genfer See“ (Stefan Zweig), der postumen Veröffentlichung des Kafka-Romans „Amerika“ und Ernest Hemingways Kurzgeschichten-Sammlung „Männer ohne Frauen“ gefreut haben.
Freunde der leichten, aber nicht anspruchsfreien Muse kamen 1927 bei den Auftritten des neu gegründeten Vokalensembles Comedian Harmonists und bei der wuchtigen Franz-Lehár-Operette „Der Zarewitsch“ auf ihre Kosten.