Chronik 1928
Die 1927 beim „Schwarzen Börsenfreitag“ (13. Mai) zumindest Fachleuten deutlich gewordene schwache Belastbarkeit des Wirtschaftsaufschwungs nach der Inflationszeit in der Weimarer Republik wurde 1928 zusehends offensichtlich. Zurückgehende Wachstumsraten, Dauerkrisen in der Agrarwirtschaft, steigende Arbeitslosenzahlen und die unzureichende Kapitalbildung im eigenen Lande, die zur Abhängigkeit von ausländischen Kapitalimporten geführt hatte, bedrohten die wirtschaftliche Basis der Republik.
Dazu kam die weiterhin bestehende Instabilität der in der Regel auf zerbrechlichen Bündnissen sich oft misstrauisch begegnender Koalitionspartner gründenden Regierungen. Das Anfang 1927 seine Arbeit aufgenommene (4.) Kabinett des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Zentrum) war bereits die 17. Regierung in der damals erst acht Jahre alten Geschichte der jungen Deutsche Republik. Auch die rechtsbürgerliche „Bürgerblock“-Regierung Marx IV blieb nicht bis zu den für Mitte 1928 angesetzten Reichstagswahlen im Amt, sondern beendete vorzeitig ihre Arbeit. Anlass war wieder einmal ein im Verhältnis zu der ausgelösten Regierungskrise unbedeutender Koalitionsstreit. In diesem Fall zerbrach das Regierungsbündnis an einem von Marx eingebrachten Schulgesetz-Entwurf. Die ständig demonstrierte fehlende Fähigkeit, sich auf Regierungs- und Reichstagsebene der Sache wegen zu konstruktiven Kompromissen durchringen zu können, hatte verheerende Wirkungen auf das Ansehen der ungefestigten Demokratie in Deutschland. Das abschätzig von Rechten und Linken als „Weimarer System“ und „Quatschbude Reichstag“ bezeichnete parlamentarische Republik-Prinzip fand zusehends weniger Anhänger.
Bei den nach dem Ende von Marx IV vorgezogenen Reichstagswahlen am 20. Mai wurden die bisherigen Regierungsparteien erheblich abgestraft. Die extreme (KPD) und gemäßigte (SPD) Linke konnten zulegen. Am rechten Rand schien auf dem ersten Blick eine Entradikalisierung der Bevölkerung auf dem Weg zu sein: Die NSDAP blieb mit 2,6 % der Stimmen eine parlamentarische Randerscheinung und die rechts-konservative DNVP sank von 20 auf 15 % ab. Die Koalitionsbildung blieb aber dennoch hochkompliziert. Am Ende hatte Hermann Müller (SPD) eine Große Koalition aus SPD, DVP, DDP, Zentrum und BVP zusammengebracht. Bezeichnend für die Unzulänglichkeit auch dieser Koalition war die Tatsache, dass die Koalitionäre neun Monate brauchten, um sich über die Verteilung der Ministerposten zu einigen.
Dem Ansehen der SPD hat daneben auch die Diskussion um ein kostspieliges Rüstungsprojekt geschadet. Als Ersatz für vollkommen veraltete Linienschiffe sollten für die kleine Reichsmarine drei neuartige Panzerschiffe in Dienst gestellt werden. Gegen den Bau des ersten dieser Neubauten war die SPD im Wahlkampf zusammen mit der KPD Sturm gelaufen („Kinderspeisung statt Panzerkreuzer A“). Als Kanzler musste sich SPD-Mann Müller auf Druck seiner bürgerlichen Koalitionäre und auch auf Druck von Reichspräsident Paul von Hindenburg, der für den Fall eines Scheiterns des prestigeträchtigen Panzerschiffs-Baus mit seinem Rücktritt gedroht hatte, für das Rüstungsprojekt einsetzen. Bei der entscheidenden Abstimmung im Reichstag hatte die gegen den Kriegsschiffs-Bau festgelegte SPD-Fraktion Fraktionszwang verfügt. Reichskanzler Müller musste deshalb als SPD-Abgeordneter gegen das von ihm selbst eingebrachte, von der Reichstagsmehrheit schließlich angenommene Marine-Rüstungsgesetz stimmen. Die Häme von Rechts und Links war wie der Image-Schaden enorm. Die KPD ging jetzt auf Befehl der Moskauer Zentrale auf kompromisslosen Konfrontationskurs gegen die als „sozialfaschistisch“ diffamierte ältere Arbeiterpartei. Saal- und Straßenschlachten zwischen der „Wehrorganisation“ der KPD, dem Roten Frontkämpferbund, und der SPD-Entsprechung Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold sowie der Polizei waren an der Tagesordnung.
Die innenpolitisch angeschlagene Republik konnte 1928 immerhin durch ihre Außenpolitik punkten. Außenminister Gustav Stresemann (DVP) war es gelungen, dass Deutschland neben den USA, Frankreich und Großbritannien zu den elf Erst-Unterzeichnerstaaten des prestigeträchtigen, „Briand-Kellogg-Pakt“ genannten, Pariser Kriegsächtungs-Vertrages vom 27. August 1928 gehörte.
Einen nationalen Prestige-Gewinn stellte im Februar 1928 auch der Staatsbesuch des afghanischen Königs Amanullah Khan in Berlin dar. Zum ersten Mal besuchte ein Monarch die Weimarer Republik. Im Monat darauf wurde nach vierjähriger Bauzeit in Berlin-Wilmersdorf die erste Moschee auf deutschem Boden als Gotteshaus für Muslime aller Richtungen eröffnet. 1928 lebten knapp 1000 Muslime in Deutschland.
In der Sowjetunion hatte der endgültig zu diktatorischer Macht gelangte kommunistische Parteichef Josef Stalin seinen früheren Hauptopponenten Leo Trotzki, der 1927 aus der bolschewistischen Partei ausgeschlossen worden war, ins kasachische Alma-Ata verbannt. 1928 ordnete Stalin den ersten Fünf-Jahres-Plan an, nach deren Vorgaben das Agrarland Sowjetunion massiv industrialisiert werden sollte .
Die USA, wo im November der Republikaner Herbert Hoover als Nachfolger von Calvin Coolidge zum 31. Präsidenten gewählt wurde, waren geschockt über den im September 1928 die Karibik-Region verwüstenden Okeechobee-Hurrikan, der über 4000 Menschenleben kostete. Die meisten Opfer hatten die USA zu beklagen. Bei einem durch den Hurrikan verursachten Deichbruch in Südflorida kamen 2500 Menschen ums Leben.
Was auf viele Außenstehende wie eine balkanesische Operetten-Geschichte wirkte, war für die albanische Bevölkerung 1928 zur politischen Realität geworden. Der seit 1922 als Ministerpräsident und seit 1925 als Präsident die Geschicke des kleinen, erst seit 1912/13 selbständigen Adria-Staates Albanien bestimmende Großgrundbesitzer Ahmet Zogu schaffte die Republik ab und machte sich als Zogu I. zum autoritär herrschenden König seines Landes.
1928 durfte Deutschland das erste Mal nach Ende des Ersten Weltkriegs wieder an Olympischen Spielen teilnehmen. War die deutsche Ausbeute mit einer einsamen Bronzemedaille bei den Winterspielen (Februar) im schweizerischen St. Moritz noch recht bescheiden gewesen, so trumpfte Sport-Deutschland bei den von Coca Cola mitgesponsorten Sommerspielen in Amsterdam mächtig auf: Mit zehn Mal Gold belegte die deutsche Delegation hinter den USA Platz 2 in der Medaillen-Tabelle.
Der 1928 in einer Berliner Zeitung vorabgedruckte Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque sorgte für Empörung bei rechten Veteranen-Vereinen und Begeisterung beim Lesepublikum. Die Uraufführung des Brecht-Weill-Theaterstücks mit Musik „Die Dreigroschenoper“ am 31. August schien dagegen zunächst ein Flop zu werden. Erst nach dem berühmten „Kanonensong“ kippte die Stimmung bei den Premieren-Zuschauern im Theater am Schiffbauerdamm ins Positive um und die Dreigroschenoper wurde zum Riesenerfolg.
Ein anderer Welterfolg begann am 18. November durch die Uraufführung des ersten vertonten US-Zeichentrick-Films. In „Steamboat Willie“ wurde zum ersten Mal die berühmteste Walt-Disney-Figur vorgestellt: Mickey Mouse.