Was war wann - Info Chronik 1972

Chronik 1972

Die Olympischen Spiele in München erlangten durch ein Geiseldrama mit vielen Toten einen traurigen Sonderplatz in der Geschichte. In den USA gewann Republikaner Richard Nixon, der 1972 wegen seiner konstruktiven China-Politik international Lob bekommen hatte, zum zweiten Mal die US-Präsidentschaftswahlen, obwohl er in Verbindung mit einem Einbruch in das Demokaten-Hauptquartier im Washingtoner Hotel Watergate gebracht worden war.
Nordirland wurde vom “Bloody Sunday“ und Deutschland von RAF-Terror erschüttert. In Deutschland kam es im Zusammenhang mit der Ostpolitik der sozialliberalen Regierung Brandt zu dramatischen, aber friedlichen Kampfszenen im Parlament: Zum ersten Mal in der Geschichte des Bundestags wurde versucht, die Bundesregierung mithilfe eines konstruktives Misstrauensvotums zu stürzen. Ebenfalls zum ersten Mal in der BRD-Geschichte stellte ein Bundeskanzler den Mitgliedern des Bundestages die Vertrauensfrage.
Im olympischen Jahr 1972 war die Sportwelt durch die gelungenen Winterspiele im japanschen Sapporo im Februar eingestimmt worden, ein halbes Jahr später heitere Sommerspiele in München erleben zu können. In Österreich hielt sich die olympische Freude allerdings sehr in Grenzen. Bundeskanzler Kreisky und Millionen andere Österreicher von links bis rechts waren vereint in ihrer Wut auf den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees Avery Brundage. Der US-Amerikaner hatte Austrias Ski-Gott Karl Schranz vom Wettbewerb sperren lasen, weil Schranz angeblich gegen den olympischen Amateur-Kodex verstoßen hatte. Die deutschen Macher der in München gefeierten XX. Olympischen Sommerspiele mit NOK-Präsident Daume und Oberbürgermeister Vogel an der Spitze entwickelten enormen Ehrgeiz, nicht an die Berliner Olympischen Spiele 1936 anzuknüpfen, sondern ausgesprochen weltoffene, zivile und heitere Spiele zu präsentieren. Die Spiele, deren Maskottchen der visuelle Bayerndackel „Waldi“ war, fingen ausgesprochen harmonisch und das Image vom friedlichen, entspannten Deutschland in die Welt transportierend am 26. August an. Umso entsetzter war die Weltöffentlichkeit am 5. September, als Mitglieder der Palästinenser-Terrorgruppe „Schwarzer September“ elf israelische Sportler im Olympischen Dorf als Geiseln gefangen nahmen. Die Terror-Gruppe verlangte unter anderem die Freilassung von über 200 in israelischen Gefängnissen einsitzender Palästinenser. Israels Ministerpräsidentin Golda Meir lehnte den geforderten Austausch ab. Ein anschließender dilettantischer Befreiungsversuch der überforderten deutschen Sicherheitskräfte endete mit einem Desaster: Alle Geiseln wurden ermordet. Fünf der Geiselnehmer kamen um, drei wurden verletzt. Mach einem Trauertag gingen die Spiele weiter.
Der „Schwarze September“ wollte in München nicht nur Palästinenser freipressen, sondern auch die deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die Köpfe der als „Baader-Meinhof-Gruppe“ beziehungsweise „Baader-Meinhof-Bande“ in die Geschichtsbücher eingegangenen ersten Generation der terroristischen Linksextremisten-Gruppe Rote Armee Fraktion (RAF). 1972 hatte die RAF bei Bombenanschlägen vier Menschen ermordet und etwa 70 verletzt. Baader und Meinhof waren im Juni wie etliche weitere RAF-Mitglieder festgenommen worden. Sie saßen seitdem unter rechtsstaatlich fragwürdigen Umständen in U-Haft („Isolationshaft“). Ebenfalls in Hinblick auf seine Rechtstaatlichkeit umstritten und und vor allem wegen seiner Auswirkungen auf die politische Kultur in der BRD in der Kritik stehend war ein Erlass der Bundesregierung und der Bundesländer, durch den auf das Gebot der Verfassungstreue bei Staatsdienern hingewiesen wurde („Radikalenerlass“). Dieser Erlass betraf vor allem Mitglieder der zwar nicht verbotenen, aber als verfassungsfeindlich geltenden Mini-Partei DKP. Aber auch sich für den Öffentlichen Dienst bewerbende Bürger, die sich aktiv in Organisationen, in denen Kommunisten führende Positionen einnahmen, engagierten, liefen Gefahr, nach einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz wegen mangelnder Verfassungstreue nicht als Lehrer, Postbote oder Lokführer eingestellt zu werden.
Der sozialliberale Koalition von Bundeskanzler Brandt (SPD) und Außenminister Scheel (FDP) blies 1972 heftiger parlamentarischer Wind entgegen. Aus Protest gegen die Ostpolitik der Regierung waren einige FDP- und SPD-Bundestagsabgeordnete zur CDU/CSU-Opposition gewechselt. Unions-Fraktionsvorsitzender Barzel (CDU), der unter diesen Umständen hoffte, die erforderliche Stimmenmehrheit von 249 Stimmen im Bundestag für einen Sturz der Regierung erhalten zu können, stellte den Antrag auf ein konstruktives Misstrauensvotums. Nach Art. 67 Grundgesetz kann der Bundestag den amtierenden Bundeskanzler abwählen, wenn die Mehrheit der Abgeordneten sich auf einen Nachfolger geeinigt hat. Barzel war sich sicher, die erforderliche Mehrheit von 249 Stimmen zu bekommen, sah sich dann aber am 27. April bitter enttäuscht: Nur 247 Abgeordnete stimmten für ihn. 1973 behauptete der CDU-MdB Julius Steiner vom SPD-Geschäftsführer Wienand bestochen worden zu sein, nicht für Barzel zu stimmen. Auch wurden Gerüchte laut, dass die DDR versucht habe, mit Geld das Stimmverhalten von CDU-Abgeordneten zu beeinflussen („Unternehmen Brandtschutz“). Um das weiter bestehende Stimmen-Patt zu beenden, griff Brandt am 22. September zum Mittel der Vertrauensfrage. Wird dem Bundeskanzler das Vertrauen auf seine Nachfrage hin von der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten nicht zugesprochen, können Neuwahlen angesetzt. Brandt, der hoffte bei Neuwahlen, eine solche Mehrheit zu bekommen, wurde das Vertrauen wegen der taktischen Mithilfe der sozialliberalen Abgeordneten erwartungsgemäß nicht ausgesprochen. Der Bundestag wurde aufgelöst. Die Neuwahlen (Wahlbeteiligung: 91 %) am 19. November endeten mit dem größten Triumph der SPD in der Bundestagsgeschichte: Die SPD bekam 45,8 % und konnte zusammen mit der FDP (8,4 %) die sozialliberale Koalition mit einer komfortablem Mehrheit von 284 Sitzen vor 234 Unions-Sitzen fortsetzen. Das Ergebnis wurde auch als Zustimmung zur sozialliberalen Ostpolitik verstanden, die 1972 mit dem Inkrafttreten von Moskauer Vertrag und anderen Ostverträgen in eine neue Phase eingetreten war. Der Brandt-Sieg machte auch den Weg frei für die Unterzeichnung des Grundlagenvertrags mit der DDR am 21. Dezember.
Die Entspannungspolitik des sich in der Vergangenheit als Kommunistenhasser profilierenden US-Präsidenten Richard Nixon (Republikaner) durch seine Annäherung an China und die UdSSR trug konkrete Früchte wie das Abrüstungsabkommen SALT I mit der Swjetunion. Im Vietnamkrieg versuchte Nixon allerdings - ein letztes Mal - mit massiven Bombenschlägen („Chrismas Bombing“) die kommunistischen Vietcong und Nordvietnam militärisch zu bezwingen. Erfolglos. Mitte 1972 begann nach dem Publikmachen von Verbindungen zwischen Weißem Haus und den Einbruch in die Wahlkampfzentrale der oppositionellen Demokraten im Hotel Watergate die Watergate-Affäre. „Trickie Dickie“ Nixon konnte zunächst noch den Anschein seiner Nicht-Beteiligung am Watergate-Einbruch sichern und im November die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden. Doch zwang ihn die Affäre im Folgejahr zum Rücktritt.
Während im Sudan mit dem Addis-Abeba-Abkommen zwischen Regierung und der südsudanesischen Rebellenorganisation SPLM/A ein in der übrigen Welt weitgehend unbeachteter Bürgerkrieg nach über 15 Jahren (vorübergehend) zu Ende ging, bekam ein anderer Konflikt mitten in Westeuropa endgültig die düstere Qualität eines Bürgerkriegs. Am 30. Januar reagierte das britische Militär nach einer Auseinandersetzung mit einigen jugendlichen Steinewerfern bei einer friedlichen Demonstration der Bürgerrechtsbewegung im Belfaster Katholiken-Stadtteil Bogside aus nie geklärten Gründen vollkommen über. Die eingesetzten Fallschirmjäger schossen mit scharfer Munition in die unbewaffnete Menge. 14 Menschen erlagen ihren Verletzungen. Der als „Bloody Sunday“ oder „Bogside Massacre“ traurigen Ruhm erlangende Zwischenfall bedeutete das Ende der von katholischen wie von protestantischen Nordiren gebildeten Bürgerrechtsbewegung. Ab dem 30. Januar bestimmten die Extremisten von katholischer IRA und protestantischer UDA sowie britische Militärs mit fatalen Folgen für die Bevölkerung das politische Geschehen in Nordirland.
1972 nahm der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll den Literatur-Nobelpreis entgegen, im schwarzkatholischen Münster sorgte die erste deutsche Schwulen-Demo für entsetztes Bekreuzigen bei manchen Bürgern, die Veröffentlichung des ersten deutschen “Playboys“ wohl auch. Der Club of Rom warnte vor den „Grenzen des Wachstums“, die erste Spielekonsole ("Magnavox") und der HP-35-Taschenrechner gaben einen Vorgeschmack auf erst erahnbare Veränderungen des Alltags durch neue Elektronik. Und mit US-Astronaut Eugene Cernan betrat und verließ der 12. und (vorläufig?) letzte Mensch den Mond.(mb)