Chronik 1977
Nicht nur in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Öffentlichkeit und Politik, sondern auch über die Grenzen Deutschlands hinaus, gehörte der mit dem Schlagwort „Deutscher Herbst“ umschriebene Terrorismus-Komplex zu den düstersten Erscheinungen des Jahres. Unter dem Begriff „Deutscher Herbst“ wurden im engeren Sinn die als markantesten Punkte des deutschen Linksterrorismus geltenden Ereignisse um „Schleyer-Entführung“ und „Todesnacht von Stammheim“ zusammengefasst. Im weiteren Sinne gehörten auch die Terroranschläge der so genannten „Zweiten Generation“ der RAF („Rote Armee Fraktion“, „Baader-Meinhof-Bande“) seit Anfang 1977 zum Deutschen Herbst. Mit einer Reihe von „Offensive 77“ genannten Aktionen sollten die zum Teil unter zumindest umstrittenen Bedingungen (“Isolationshaft“) einsitzenden Angehörigen der ersten RAF-Generation (Andreas Baader, Gudrun Ensslin, u. a.) freigepresst werden.
Erste Opfer der Offensive 77 waren der für das Verfahren gegen die RAF-Verurteilten und -Beschuldigten zuständige Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer sowie ein Mitarbeiter. Die drei zur Bundesanwaltschaft gehörenden Männer wurden am 7. April in Bubacks Dienstwagen von einem „Kommando Ulrike Meinhof“ erschossen. Am 30. Juli versuchte ein „Kommando Aktion Roter Morgen“ den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, zu entführen. Ponto wehrte sich und wurde tödlich angeschossen. Am 5. September wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt, der sowohl wegen seiner damaligen Funktion als auch wegen seiner Vergangenheit als SS-Offizier und NS-Studentenfunktionär besonders gut dem Feindbild der RAF vom „Schweinesystem“ entsprach. Bei der Entführung wurden Schleyers Fahrer Heinz Marcisz und drei Personenschützer erschossen. Die Entführer verlangten die Freilassung von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und acht weiteren RAF-Terroristen. Die Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) weigerte sich. Sie hielt auch an dieser Entscheidung fest, nachdem am 13. Oktober die palästinensische Terroristen-Organisation “Schwarzer September“ das Lufthansa-Passagierflugzeug „Landshut“ mit 87 Insassen gekapert hatte. Zu den Forderungen der Geiselnehmer gehörten vor allem die auch von den Schleyer-Entführern gewollte Freilassung der elf RAF-Mitglieder.
Nach Stationen über Larnaka, Rom, Dubai und Aden gelangte die „Landshut“ schließlich nach Mogadischu. Hier wurde sie am 18. Oktober von der deutschen Grenzschutz-Einheit GSG 9 gestürmt. Drei der Entführer wurden getötet. Flugkapitän Schumann war zwei Tage vorher von den Geiselnehmern ermordet worden. Als Folge der missglückten Geiselnahme begingen Baader, Raspe und Gudrun Ensslin im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Als Reaktion auf die „Todesnacht von Stammheim“ erschossen die Schleyer-Entführer den Arbeitgeberpräsidenten, dessen Leiche am 19. Oktober in Nordfrankreich gefunden wurde.
Im Deutschen Herbst befand sich die BRD in einer Art Ausnahmezustand. Abgesehen von einigen bedenklichen Reaktionen des Staatsapparats haben die Verantwortlichen trotz der Forderungen vieler Hardliner aber der Versuchung widerstanden, rechtsstaatliche Kernprinzipien unter dem Vorwand der Terrorismus-Abwehr aufzugeben.
Parallel zur Terrorismus-Diskussion wurde die innenpolitische Szene 1977 von der Anti-Atomkraft-Debatte beherrscht. Bei Protesten gegen das geplante AKW Kalkar führte eine Demonstration am Bauplatz mit 40.000 Teilnehmern zum bis dahin größten Polizeiaufmarsch in der bundesdeutschen Geschichte.
Zu den wichtigsten Ereignissen 1977 gehörten positive Entwicklungen im Nahost-Konflikt. Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat war in die Friedensoffensive gegangen und hatte dem israelischen Regierungschef Menachem Begin Gespräche angeboten. Zur Überraschung der Weltöffentlichkeit nahm Begin dieses Angebot an und lud Sadat nach Israel ein. Am 20. November erkannte Sadat in Israel das Existenzrecht des israelischen Staates an. Damit begann vier Jahre nach dem israelisch-arabischen Jom-Kippur-Krieg ein, oft mühsamer, Dialog, der 1979 mit dem Camp-David-Abkommen die Basis für normalisierte Beziehungen zwischen Ägypten und Israel legen sollte.
Als Moderator dieses Dialog konnte sich der im Januar 1977 vereidigte 39. US-Präsident Jimmy Carter profilieren. 1977 war auch das Jahr, in dem erstmals seit Beginn des faktischen Todesstrafen-Moratoriums 1967 in den USA wieder Menschen hingerichtet worden sind. Der Oberste Gerichtshof hatte im Vorjahr die Todesstrafe als mit der Verfassung vereinbar erklärt. Auch, um sich nicht dem für die obersten US-Richter offensichtlich irrelevanten Vorwurf aussetzen zu müssen, die bei Hinrichtungen nie auszuschließende Tötung von Unschuldigen billigend in Kauf zu nehmen, hatten in Europa immer mehr Länder auf die Todesstrafe verzichtet. Im September 1977 wurde in Frankreich das letzte Mal ein Verurteilter enthauptet. Es war die letzte Hinrichtung in einem zur westeuropäischen Wertegemeinschaft zugerechneten Staat.
1977 trauerten Millionen Elvis-Presley-Fans: Ihr "King" war gestorben.
Im Unterhaltungsbereich wurde der Disco-Trend endgültig massentauglich. Anders als der anarchistische Wutprotest der 1977 mit den Sex Pistols ihren Höhepunkt erreichenden Punk-Bewegung, war der rein hedonistische Konsum-Ansatz der Disco-Anhänger systemkonform. Die Eröffnung der New Yorker Diskothek „Studio 54“ stand ebenso für die Disco-Welt wie der globale Kassenerfolge feiernde Film „Saturday Night Fever“, mit dem Enghosen-Träger John Travolta berühmt wurde. Ein anderer US-Film-Hit des Jahres war die erste Folge der SF-Serie "Star Wars". (mb)